Salz und Licht
Die Zukunft der Kirche steht zur Debatte. Der Anteil der konfessionell gebundenen Christen an der Gesamtbevölkerung hat sich in Deutschland von den 1950er-Jahren bis heute halbiert. Aufschlussreiches Zahlenmaterial liefert der Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung. Detailliert lässt sich dies auch auf Wikipedia nachlesen.
Analoge Entwicklungen zur Kirchenentwicklung gibt es auch in den europäischen Nachbarländern. Etwa in der Schweiz, wo das Schweizerische Sozialpastorale Institut die Entwicklung aufzeichnet. Dort sind noch etwa zwei Drittel der Bevölkerung in den Kirchen beheimatet — jedenfalls offiziell. In den Niederlanden sank der Anteil der Mitglieder der beiden großen Konfessionen von zusammen 58 Prozent im Jahr 1990 auf 39 Prozent im Jahr 2015. Umgekehrt stieg der Anteil der Konfessionslosen im gleichen Zeitraum von 38 auf 50 Prozent.
Schwund der Institutionen
Vergleichend zur Entwicklung der Zahl der Kirchenmitglieder lässt sich ein Blick auf die Entwicklung der Mitgliederzahlen in den deutschen Volksparteien beobachten. Die Zahl der Mitglieder der SPD hat sich seit 1990 von 943.000 (CDU 790.000) auf 460.000 im Jahr 2014 mit rund 48 Prozent verbliebener Mitglieder mehr als halbiert. Etwas glimpflicher war der Verlauf bei der CDU, die mit 457.000 Mitgliedern noch über rund 57 Prozent ihres früheren Stammes verfügte. Quelle: Bundeszentrale für Politische Bildung.
Eine in die Debatte oft nicht einbezogene Institution der Gesellschaft in Deutschland sind die Tageszeitungen. Auch hier sind die Zahlen beeindruckend. Die Verkaufte Auflage aller Tageszeitungen in Deutschland sankt von 27,3 Millionen Exemplaren im Jahr 1991 auf 15,3 Millionen im Jahr 2016. Erhebungen über sinkende Einschaltquoten bei Tagesschau und Co. werden hier ausgeklammert. Nur so viel, der Trend ist ähnlich, wenn auch nicht so krass.
Dass die Tageszeitungen in der Debatte nicht auftauchen, liegt vor allem daran, dass dieser Bereich in seiner großen Vielfalt nicht als eine Institution wahrgenommen wird. Tatsächlich ist es aber so, dass der hohe Organisationsgrad in Kirchen, in Parteien und der große Anteil von Abonnementszeitungen pro Haushalt deutsche Besonderheiten sind.
Und es gibt weitere Gemeinsamkeiten. Wie eine Kirchenmitgliedschaft und ein Parteibuch begleitet eine Tageszeitung ihre Empfänger oft bis zur Bahre. Zwar sind etwa die Kirchenaustrittszahlen durchaus beeindruckend, 2015 waren es zusammen 391.925 (Quelle: Wikipedia), sie erklären den Schwund aber nicht alleine. Meine These: Das Problem ist der Nachwuchs. Hier lohnt sich ein Blick in den Religionsmonitor (siehe oben). Und das liegt — das ist jetzt nicht so richtig originell — an mangelnder Akzeptanz. Oder, wie ich hier aufzeigen möchte, an mangelndem Vertrauen.
Lange habe ich nicht verstanden, wie dieses Akzeptanzproblem zustande kommt. Doch dann trat etwas Neues in mein Leben. Auf meinem Weg in das Predigtamt in der Kirche absolvierte ich 2016 den Blockkurs „Fresh-X“, ausgerichtet vom Projektbüro Kirche2 in Hannover. Seitdem habe ich für mich und meinesgleichen nicht nur die humorige Typisierung „Kirchenheino“ (Sandra Bils) gelernt, ich weiß vor allem, ich bin nicht alleine auf diesem Kirchenplaneten. Wobei ich dies lange befürchtete. Auf einmal saß ich unter Menschen, die bei einer der Eingangsthesen, „Sehnsucht kommt vor Strukturen“ nickten. Und vor allem, ich habe eine lange Literaturliste mitgenommen. (Nachtrag Dezember 2020: Mittlerweile hat sich die Hannoversche Landekirche erfolgreich von ihrem einstigen Innovationsmotor getrennt. Auf die groß angekündigte “Weiterentwicklung” wartet die Welt noch.)
Eines der Bücher, der New York Times-Bestseller „Frag immer erst warum“ von Simon Sinek, brachte mir die lang ersehnte Antwort auf meine Frage(n) danach, wie das Akzeptanzproblem zustande kommt. Es klingt zu banal, um es hier hinzuschreiben, aber ich tu’s: Alle drei Institutionen, genauer gesagt Teile von ihnen, Kirche, Parteien, Tageszeitungen, haben ihr Warum, den tiefen Sinn ihrer Existenz zumindest teilweise aufgegeben oder verloren.
Vom Vermeintlichen überlagert
Der Buchautor und Journalist Ulrich Teusch zitierte in einer Sendung der Reihe Alpha Forum (ARD-Alpha) den ehemaligen Hörfunkdirektor des Bayerischen Rundfunks, Dr. Johannes Grotzky, folgendermaßen: Der Journalismus, so Grotzky, sei früher nicht besser gewesen. Der gute Journalismus werde aber von etwas überlagert, was Grotzky den „vermeintlichen Journalismus“ nenne. Kennzeichnend sei, so Teusch in dem Beitrag, diese Art von Journalismus sei tendenziös, plakativ, vereinfachend, staats- oder wirtschaftsnah oder werde für Kampagnen missbraucht.
Ulrich Teusch (Autor des Buches Lückenpresse) sah lange vor anderen die Mediendebatte heraufziehen. Als Journalist legt Ulrich Teusch großen Wert auf eine ausgewogene Betrachtung. Journalisten leiden unter dem Anwurf „Lügenpresse“ und unter dem Verfall der Glaubwürdigkeit. Viele aufrechte Journalistinnen und Journalisten, fühlen sich „mit in Haft genommen“.
Ausgehend von der These, dass Teile der Verlage (Sender etc.) ihr Warum, den Grund ihrer Entstehung (Aufklärung, Freiheit der Presse, Demokratie) nicht mehr im Blick haben, werden überhaupt erst die Räume eröffnet, für populistische Anwürfe wie „Lügenpresse“. Erhellend ist dabei der Hinweis von Ulrich Teusch, dass es sich hier um einen moralisierenden Vorwurf handelt. Der Vorwurf appelliert unmittelbar an die Gefühle der Hörenden.
Ähnlich formulierte es auch ausgerechnet Dr. Mathias Döpfner, der Vorsitzende der Axel Springer SE auf einer vom ZDF am 19. Februar 2017 abgehaltenen Diskussionsveranstaltung im Rahmen der Berlinale zum Thema Medienpolitik: Der Populismus arbeite mit Emotionen. Die Entwicklungen auf dem Medienmarkt — dazu gehört nach Döpfner auch der unkontrollierbare Einfluss von Facebook auf 2 Milliarden (!) Nutzer — erfordern seiner Ansicht nach einen Populismus für die richtige Sache.
Vom Journalismus lassen sich mühelos Analogien zu Kirche und Politik entwickeln. In beiden Bereichen gab und gibt es immer Menschen und Organisationsteile, die das Warum mit Aktivitäten überlagern, die dem Daseinszweck nur vermeintlich entsprechen.
Auf der Beziehungsebene
Zugespitzt lässt sich sagen, dass Verlage, die sich nur noch als Kapitalgesellschaften verstehen, die der Rendite verpflichtet sind, Politiker, die von Spin-Doktoren geleitet, als sprechende Anzüge (gilt auch für Hosenanzüge) nur noch den Umfragewerten folgen sowie Kirchen, die in ihrer Ausrichtung die vermeintliche Stärkung der eigenen Struktur vor die Menschen stellen, machen ihre Gegenspieler erst groß — und sich selbst klein.
Anders ausgedrückt: Wo der Daseinszweck gegen Geld und/oder Einfluss ausgetauscht wurde, haben Systeme und Strategien über die Beziehung gesiegt. Bemerkenswert ist dabei, wie nah sich Verschwörungstheoretiker, aggressiver Atheismus und die neue Rechte in ihrem Auftreten mit ihren Argumentations- und Manipulationsformen sind. Manipulation ist austauschbar. Beziehung hingegen nicht.
„Neue rechte Bewegungen sind dezidierter Angriff auf unser System parlamentarischer Demokratie”, heißt es in einem Tweet der Hannoverschen Landeskirche vom 17.2.2017. Ich sage, der Angriff geht darüber hinaus, er betrifft das Gerüst unserer Kultur. Und an den Stellen, wo es nicht gefüllt ist, wird es brüchig.
Lücke im Herzen
Die genannten Bewegungen profitieren von der Lücke, die der ‘vermeintliche Journalismus’, die ‘vermeintliche Kirche’ und die ‘vermeintliche Politik’ in den Köpfen und vor allem in den Herzen der Menschen hinterlassen. Der Sieg der Strategien über das Warum gibt dem von der neuen Rechten und ihren Verwandten ausgerufenen Kampf gegen „das System“ Nahrung. Der von Ulrich Teusch als moralisierend erkannte Vorwurf „Lügenpresse“ lässt sich mit dieser Lücke in den Herzen der Menschen gut erklären.
Genau hier lässt sich ansetzen: Wo eine Beziehung zwischen dem Medium (Zeitung, Kirche, Partei) und dem Empfänger der Botschaft entsteht, liegt es immer auch am Botschafter selbst. Es sind ja immer Menschen, die für die Institutionen stehen: Journalisten, Pfarrerinnen und Politiker. Die Botschafter selbst sprechen immer lauter als die Botschaft. Sie sind in der Lage, die Lücke in den Herzen zu füllen. Letztlich geht es also um Sinn. Und das wäre deutlich mehr, als der von Dr. Mathias Döpfner geforderte Populismus für die richtige Sache.
„Die kleinen Leute“
Religionen und Kirchen haben das Monopol auf die Beantwortung der Sinnfrage und den Glauben vielleicht verloren, aber sie haben immer noch immense Möglichkeiten dazu. Die Aussagekraft der oben dargelegten Zahlen ist ja begrenzt. Wir wissen ja nicht, wie viele Zeitungen ungelesen in den Papierkorb wandern. Wir wissen nicht (aber ahnen), was in den Köpfen der Partei- und Kirchenmitglieder wirklich los ist. Aber wir wissen, wie viele — oder wie wenige — von ihnen sonntags noch eine Kirche besuchen oder bei der Sitzung des Ortsverbandes der SPD erscheinen.
Es geht vor allem um Wirksamkeit. Das haben Pegida, AFD & Co. erkannt und mit ihnen weitere Trittbrettfahrer bis weit hinein in das so genannte Bürgerliche Lager. Lange haben diese Minderheiten es vermocht, die Debatten zu dominieren. Bis der zwischenzeitliche „Schulz-Effekt“ auftrat, der eine anschauliche Antwort auf das Akzeptanzproblem lieferte.
Anfang Februar 2017 waren schon rund 4.500 Menschen in die eben noch tot geglaubte SPD eingetreten, weil mit Martin Schulz plötzlich einer an der Spitze stand, dem Menschen zutrauten, dass er dem bisherige System der Politik etwas Glaubhaftes entgegensetzen könnte. Gut zehn Tage später waren es über 6.000 und die SPD hatte die CDU in den wichtigen Umfragen überholt.
„Man hat das Gefühl, dass er die Menschen versteht“, sagt eine Frau bei einer Straßenumfrage der ARD in ein Mikrofon. Ein Mann sagt: „Er redet Klartext, spricht die Probleme der kleinen Leute an und redet nicht drum herum wie die Politiker.“ Dann fügt der Mann noch hinzu: „Die anderen Politiker“. Er sagt wirklich „die Politiker“. Martin Schulz, 2017 Kanzlerkandidat der SPD, war offenbar in der Lage, das Vertrauen vieler Menschen zu gewinnen und das mit Aussagen, die ihn zumindest zugewandt erscheinen ließen.
Am Zipfel des Gewandes
Ausgangspunkt dieser Überlegungen war die Zukunft der Kirchen und das mangelnde Vertrauen. Vertrauen gewinnt jemand — und das gilt auch für Institutionen — der berechenbar, kompetent, wohlwollend ist und vor allem zugewandt.
Einen ähnlichen und vor allem viel größeren Effekt wie Manfred Schulz hat Papst Franziskus ausgelöst und das weit über die Grenzen der katholischen Kirche hinaus und auch in meine, die evangelische Kirche hinein. Dabei steht Franziskus für Werte ein. Weicht nicht einen Millimeter von der Lehre seiner Kirche ab (auch manches, was sich Katholiken immer noch anders wünschen würden) und trotzdem erscheint er auf neue Weise: zugewandt und für die Menschen da.
Neid und Angst, die in den Köpfen und Herzen die Oberhand gewinnen wollen, setzt er Werte entgegen. Als Botschafter, der lauter spricht als seine Botschaft, lässt Franziskus die Welt wieder an Nächstenliebe und den Wert des Individuums glauben. Er fordert das von seiner Kirche ebenfalls ein und erzielt damit eine große Wirkung. Vielleicht nicht so schnell in der großen und daher trägen Weltkirche, aber in den Herzen derer, die mit einer unerfüllten Sehnsucht herumlaufen.
Es geht in diesen Tagen vielleicht mehr als je zuvor seit Ende des zweiten Weltkrieges um die Frage, wem die Mehrheit der Menschen nachfolgt. Der Satz „Folge mir nach“ gewinnt unter diesen Bedingungen gesellschaftliche Brisanz. Und genau hier ist die Chance und Aufgabe der Kirchen und aller Christen.
Ihr seid das Salz der Erde. Hier geht es um Werte und nicht um Mitgliedszahlen. Es geht um die Verantwortung, in der Welt wirksam zu sein. Die Haltung oder das Bewusstsein, das dahinter steht, hat der frühere Benediktiner Jonathan Düring in dem Buchtitel „Ihr seid das Salz und nicht die Suppe“ treffend beschrieben.
Ihr seid das Licht der Welt. Hier geht es um Sichtbarkeit. Es geht nicht darum, die Kirchen voller zu machen oder mehr Kirchensteuerzahler zu generieren. Vermutlich wäre es aber ein angenehmer Nebeneffekt, wenn es gelingen würde, glaubwürdige, vertrauenswürdige Gemeinschaften zu bilden, die sich in die Gesellschaft einbringen und sie verändern — und sich selbst dabei verändern lassen. Wie gesagt, geht es dabei um Wirksamkeit und nicht um die Frage, wie man wieder Kirchensteuerzahler generiert.
Womöglich bleibt dabei nicht die Kirche in der Gestalt übrig, die mich einmal getauft und aufgenommen hat. Aber eine, die sich mitten in der Straße, im Viertel, mitten in der Welt wiederfindet und so Gott in der Welt sichtbar und relevant werden lässt. Eine Kirche, in der es viele „missionale Pioniere“ (Jonny Baker) gibt, wie in der Vision des Propheten Sacharja (8,23): Zu der Zeit werden zehn Männer aus allen Sprachen der Heiden einen jüdischen Mann beim Zipfel seines Gewandes ergreifen und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir hören, dass Gott mit euch ist.“